Kurzgeschichte: "Das Messer"

Hinweis: Der Text entstand als Reaktion auf den beeindruckenden "Polizeiruf: Mitternacht". Deshalb enthält er körperliche und psychische Gewalt.
 

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Sie suchen mich. Nicht irgendjemanden, nicht den "Tunnelmörder", wie die Zeitungen mich nannten. Sie meinen mich. Zumindest haben sie ein Bild. Es ist mein Gesicht, dass da am Schwarzen Brett vor der Mensa hängt. Und in jeder Polizeidienststelle. Aber das hier ist nicht Aktenzeichen XY. Das ist mein Leben, mein eigenes, zersplitterndes Leben.

Ich ahne, woher das Bild kommt: von der Frau aus dem Studentenwohnheim, aus dem letzten Zimmer hinten rechts. Kann sie mir richtig vorstellen. Wie in einem schlechten Krimi saß sie bei der Mordkommission, theatralisch leidend: »Die Augen kleiner, irgendwie wütender … die Nase spitzer … Haare und Ohren konnte ich nicht sehen. Er trug einen Hoodie.« So muss es gewesen sein.

Ich hätte die Tür schließen sollen, als sie da in ihrer Blutlache lag. Dann hätte niemand sie rechtzeitig gefunden. Und es gäbe kein Phantombild. Wie kannst Du nur so blöd sein. Ich beiße mir in die Hand, um die Verachtung auszuhalten. Das Bild ist besser als damals. Aber trotzdem wird mich niemand erkennen ... hoffe ich.

Ich habe schließlich dazu gelernt. So ein Kapuzenpulli ist praktisch. Kaum jemand denkt sich etwas dabei, wenn man ihn trägt. Aber er versteckt meine komischen fahlblonden Locken und die kleinen Ohren. Die Augen am schwarzen Brett sind zu klein, der Mund stimmt auch nicht ganz. Niemand wird mich erkennen. Ich habe das Bild trotzdem von der Wand gerissen. Mit zitternden Fingern versuche ich es zusammenzurollen und in den Rucksack zu stecken. Dummkopf! Auffälliger geht es wirklich nicht. Versager.

Ich bin wütend. Wütend auf mich selbst. Und wütend auf diese Frauen. Ich sehe doch die Verachtung hinter dem lachenden Mund. Schlappschwanz. Du wirst es zu nichts bringen, zu nichts. Hörst Du? Die Wut kocht in einem Menschen, heißt es, sie brodelt. Meine Wut brodelt nicht. Sie fühlt sich an wie Säure im Magen. Manchmal muss ich davon kotzen, wenn sie sich ihren Weg durch meine Kehle ätzt. Manchmal wird die Wut auch kalt und hart. Dann zittere ich nicht mehr. Dann balle ich die Fäuste und suche mein Messer.

Ob Papa wusste, wofür ich es brauche? Damals, als er es mir schenkte. Es ist seltsam, wie alle Erinnerung an ihn verblasst ist. Nur diese zwei Momente sind mir geblieben. Der eine, in dem er mir sein Jagdmesser schenkte und den Wetzstein dazu. Ich war so stolz. Er hat es mir gegeben, als wäre es ein Auftrag, ein Vermächtnis. Und der andere Moment, der Abschied: Als ich ihn vom Balken schneiden musste. Ich wollte nicht hinschauen. Ich wollte das blaue Gesicht nicht sehen und schon gar nicht die nasse Hose. Schau hin! Dein Vater, der Versager. Sogar im Tod pisst er sich in die Hose. Ich habe Oma gehasst. Ich hasse sie immer noch, auch wenn sie schon lange im Grab vermodert.

Ich muss jetzt vorsichtig sein, mich zusammen reißen. Nichts Unüberlegtes tun. Nicht auffallen. Keine Frauen anschauen, nicht onanieren, schon gar nicht im Freien. Ich werde mich auf mein Studium konzentrieren. Wie ein Mantra sage ich es mir immer wieder vor. Konzentriere Dich!

Aber auch im Labor sind diese falschen, lächelnden Gesichter. Und in meinem Zimmer finde ich keine Ruhe. Als hätten sie sich gegen mich verschworen. Der über mir übt schon wieder mit seinen E-Drums. Ich höre ihn, auch wenn er mit Kopfhörern übt. Er merkt es nicht einmal und ich kriege dieses Tok-Tok-Tok nicht aus meinem Kopf. Nebenan streiten sie sich. Die Italienerin und ihre Mitbewohnerin. Hört auf! Die Notizen in meiner Hand sind zerknüllt, zerrissen. Wie meine Gedanken. Ich muss hier raus.

Draußen ist es kühl, aber ich komme nicht zur Ruhe. Rechts quillt Gegröle aus der Kneipe. Ich weiß nicht einmal, ob sie Fußball schauen oder einfach nur saufen. Auch hier ist keine Ruhe. Ich drehe mich nach links und versuche zu fliehen. Die Teenager an der Bushaltestelle lachen miteinander. Sie können kaum stehen, auf ihren Stöckelschuhen, aber sie lachen und feixen. Ich sehe es doch, sie lachen über mich. Schlappschwanz, Perversling. Blindlings biege ich ab, weg von dem Lachen, weg von dem Lärm. Endlich wird es ruhiger um mich herum. Nur in mir nicht.

Vor mir verabschiedet sich eine dunkelhaarige Frau von ihren Freundinnen. Sie winkt ihnen lachend zu. Dann geht sie in die Tiefgarage. Direkt vor mir. Sie ist allein und schaut sich nicht um. Meine Sneaker sind auf dem harten Beton nicht zu hören und ich ziehe die Kapuze hoch. Wieder taste ich nach dem Messer in meiner Tasche.

Es ist kalt, hart und scharf, als ich es aus der Scheide ziehe.

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