SciFi-Kurzgeschichte "Der Lauf der Zeit"


»Simultandolmetscher. Wer zum Henker tötet einen Simultandolmetscher?« Dieter C. Schellhaas hatte sich hingekniet und eine der Visitenkarten aufgehoben, die neben dem Bücherregal auf dem Boden lagen. Die Stimme des Hauptkommissars klang wie immer ein bisschen nach Joe Cocker, er schien das Wort regelrecht zu kauen. »Si-mul-tan-dol-met-scher?« Schwerfällig richtete er sich auf und betrachtete kopfschüttelnd das Chaos zwischen Sofaecke und Regal.

»Wenn wir unseren Job anständig machen, dann wissen wir es am Ende.« Die nüchterne Antwort kam aus Richtung des Schreibtischs, an dem der zweite Kommissar, Eddie Knöchel, methodisch und mit geübten Handgriffen die Schubladen durchsuchte. Das angedeutete Lächeln in seinem perfekt gepflegten Bart, konnten die anderen nicht sehen. Sie sahen nur seinen breiten Rücken, in dem gut sitzenden Sakko. Den Mantel hatte er akkurat über die Stuhllehne gehängt. Die KTU war schon wieder gegangen, so dass sie ihre weißen Einweg-Overalls nicht mehr brauchten.

Die dritte Polizistin im Raum war die jüngste. Sarah DeVries saß am Esstisch und tippte konzentriert eine Liste der gesammelten Beweise in ihr kleines Notebook. Nummerierte Plastiktüten lagen vor ihr auf dem Tisch. Die langen Haare hatte sie zu ihrem üblichen Pferdeschwanz zusammen gebunden, um sich besser konzentrieren zu können. Das leise Klappern der Tastatur war für einen Moment das einzige Geräusch in dem kleinen Appartement. Die Leiche war schon abtransportiert, aber der metallisch-süße Geruch nach Blut hing noch im Raum, wie eine stille Erinnerung an die Abgründe menschlicher Aggression.

Knöchel drehte kurz seinen Kopf und schaute über die Schulter. »Genau genommen wissen wir nicht, ob jemand den Dolmetscher getötet hat«, sagte er mit Betonung auf Dolmetscher. »Er könnte auch als Ehemann, Sohn oder Nachbar zum Opfer geworden sein. Kein Motiv ausschließen.« Die üblichen Neckereien im Team. Gerade diese erste Phase der Ermittlungen war zu fünfundneunzig Prozent Routine und zu fünf Prozent Glück und Intuition. Das wussten sie alle. Tatort untersuchen, Zeugen vernehmen, Lebensumfeld verstehen. »Wir sind ein gutes Team«, dachte Knöchel.

Schellhaas betrachtete die Markierungen der Spurensicherung und das verschmierte Blut. »Wenn Müller recht hatte, dann stand hier ein schwerer Werkzeugkoffer oder so 'was. Ist erst nach der Tat entfernt worden.« Das war wichtig. Vorsichtig kniete er sich hin und kniff die Augen zusammen. «Wissen wir, woran er gearbeitet hat?«

Die letzte Frage galt Knöchel, der gerade den Kalender des Opfers geöffnet hatte. Einen jener altmodischen Zeitplaner in A5-Format. Ein Ringbuch, gefüllt mit Terminen, Telefonnummern und Notizen. Zwischen den Seiten klebten Post-Its und in Ringhüllen waren Zeitungsartikel und anderes verstaut. Knöchel wünschte sich für einen Moment, alle Opfer wären so gründlich und vor allem altmodisch. Kein Handy, oder Laptop, deren Passwörter ihnen den Zutritt versperrte. Einer der Vorteile der 'guten alten Zeit‘. Er stutzte kurz, blätterte zwei Seiten zurück. »Er ist erst gestern Nachmittag aus der Schweiz zurück gekommen.« Er blätterte eine weitere Seite um. »Offensichtlich hatte er einen Auftrag am CERN.«

Schellhaas, der sich inzwischen das Sideboard vorgenommen hatte, atmete aus. Es klang wie eine undefinierbare Mischung aus Seufzen und einem trockenen Rasseln. Seiner Lunge ging es nicht gut. Die Schussverletzung war nie richtig ausgeheilt, seitdem war er noch grummeliger als früher. »Die Schweizer Behörden und dann auch noch das CERN mit seiner internationalen Verwaltung. Da kommt viel Bürokratie auf uns zu, falls wir Zeugen befragen müssen.« Schellhaas war berüchtigt für seine tiefe Abscheu gegen jede Form von Bürokratie. »Was macht gerade ein Dolmetscher am CERN, ich dachte, da geht es um Kernforschung?« Fragend schaute er zu Knöchel, der immer noch konzentriert den Kalender durchforstete.

DeVries hatte beim Wort CERN den Kopf gehoben. Ihre Augen funkelten. »Geht es um Quantenphysik?« fragte sie.

Knöchel nickte zustimmend: »Er war als Dolmetscher auf einem Symposium engagiert.« Er kniff die Augen zusammen und las vor: Quantenschleifengravitation und nicht-lineare Zeit«. Er zog einen Kongress-Flyer aus dem Kalender und hielt ihn hoch. »Hm, irgend was über den Zusammenhang von Quantenphysik und Zeit.« Er seufzte theatralisch. »Und das soll ein einfacher Hauptkommissar aus Darmstadt verstehen.« Das Schmunzeln war wieder da, während er eine weitere Seite aus dem Kalender umblätterte. Er wusste, was jetzt kommen würde.

»Wir sind doch selbst in einer richtigen Physik-Stadt«, sagte DeVries, die Stimme voller Begeisterung. »Wenn der FAIR fertig ist, haben wir hier einen der besten Teilchenbeschleuniger der Welt.« Sie konnte das Wissen aus den Physik-Sendungen und Podcasts nicht für sich behalten, mit denen sie einen guten Teil ihrer Freizeit füllte. »Und Professor Markus van Baer von der TU Darmstadt hat doch gerade erst neue Entdeckungen im Bezug auf Quantenschleifengravitation veröffentlicht. Stand letzte Woche im Echo.«

»Interessant«, warf Knöchel ein. Er zeigte auf den Flyer. »Eben dieser van Baer scheint einer der Leiter der fraglichen Arbeitsgruppe zu sein. Dazu kommen ein Carlos Rovelli aus Italien und eine Frau Professor Lu Bao Lin aus China, lauter hochkarätige Forscher. Und unser Dolmetscher scheint schon länger mit von der Partie zu sein.« Er deutete auf mehrere Schnellhefter, die ordentlich aufgereiht auf einem Regal über dem Schreibtisch standen.

«Er hat auch viel gelesen.« Schellhaas streifte mit den Fingern über die Buchrücken, während er die Titel entzifferte: »Rovelli: ‚Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint‘ und ‚Die Ordnung der Zeit‘. Van Baer: ‚Quantengravitation & Zeit‘.« Er stutzte kurz, denn er hatte mehrere Bücher mit vermutlich chinesischen Schriftzeichen gefunden. »Hat unser Opfer auch chinesisch übersetzt?«.

»Ja«, antwortete DeVries nach einem Blick in ihr Notebook. Glücklicherweise hatte einer der Verlage auch die englischen Titel auf den Buchrücken gedruckt. »Lu Bao Lin: ‚The DAO of time‘«, entzifferte der Kommissar und »‚A quantum physical approach to non-linear time‘«. Er schüttelte den Kopf. »Nicht-Lineare Zeit«, übersetzte er halblaut. »So ein Quatsch. Die Zeit läuft einfach unerbittlich ab, wie ein Pfeil, ohne sich um uns Menschen zu kümmern. Ich sehe das jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel schaue.«

Wieder musste Knöchel schmunzeln. Der Alte stellte sich ganz oft dümmer, als er war. Dann richtete er sich plötzlich auf. Auf zwei Kalenderseiten hintereinander waren alle Termine heftig durchgestrichen worden. An einer Stelle hatte die Spitze des Kugelschreibers sogar das Papier zerrissen. Hier war eine Menge Wut im Spiel gewesen. Sein kriminalistischer Instinkt meldete sich. Mögliches Motiv? Kurz danach hatte er eine Spur: »Unser Opfer hat seinen Job im Streit hingeworfen und ist zwei Tage früher abgereist.«

»Warum?«, fragte DeVries und blickte zu ihm hinüber. »Hat das mit dem Mord zu tun?«

»Das wird aus den Aufzeichnungen nicht klar.« Knöchel blätterte vor und zurück. »Es scheinen heftige Diskussionen über mögliche Gefahren des Experiments ausgebrochen zu sein«, murmelte er. Die Notizen waren handschriftlich, der Schreiber offensichtlich ziemlich wütend gewesen; alles schwer zu entziffern. Zwischen den Kalenderseiten fand er mehrere Zeitungsartikel, ausgerissen und mit Anmerkungen versehen. Neue Züricher Zeitung: ‚Europas Teilchenphysiker streiten um gefährliche Experimente‘, Süddeutsche Zeitung: ‚Aufstand am CERN‘, Tribune de Genève: ‚Guerre entre les CERNISTES‘ … er überflog die Artikel und fasste zusammen, was er verstanden hatte: »Soweit ich das hier zuordnen kann, gab es am CERN heftigen Widerstand gegen das Experiment der Arbeitsgruppe van Baer. In manchen Zeitungen ist von ‚Aufstand‘ die Rede, es gab Petitionen, Warnungen von anderen Physikern, auch renommierten.«

»Worum ging es bei dabei?« Schellhaas schaute ihm fragend über die Schulter.

Knöchel blätterte schnell durch die Artikel, seine sonst so gelassene Routine war verschwunden. »Genau kann ich Dir das auch nicht nicht sagen«, antwortete er und wandte sich noch einmal dem Unterlagen zu. »Das hier scheint detaillierter zu sein, aber es ist auf französisch. Ich verstehe nur die Hälfte.« Er zeigte auf den Artikel. »Aber hierfür reicht mein Französisch: Das zentrale Experiment scheint für heute geplant gewesen zu sein. Es müsste seit etwa zwei Stunden laufen und eigentlich hätte unser Opfer jetzt dort sein sollen, statt in der Pathologie zu liegen.«

Schellhaas hatte einen weiteren Ordner geöffnet und hob jetzt ein Foto hoch. »Schaut mal hier« Das Bild zeigte einen geöffneten Koffer aus Edelstahl mit einem sorgfältig eingepassten Bauteil aus schichtweise angeordneten Metallplatten, auf Hochglanz poliert und präzise aufgereiht in einem Rahmen mit elektrischen Anschlüssen. In einer Ecke war das Logo des CERN zu sehen. Er verglich das Bild mit den Spuren im Blut und nickte. »Das könnte es sein«, sagte er. »Wenn dieser Koffer hier war, dann hat das was mit dem Mord zu tun.« Er wirkte beunruhigt. »Wollte er das Experiment verhindern?«

Auch DeVries war jetzt zum Schreibtisch gegangen und blätterte durch die Schnellhefter, die über dem Schreibtisch gestanden hatten. Seitenweise Formeln, Ausdrucke großer Datenmengen und Konstruktionszeichnungen von riesigen Sensoren und noch größeren Beschleunigern wechselten sich ab. Viele mit handschriftlichen Ergänzungen in Englisch und Chinesisch. Sonst war sie immer fasziniert von physikalischen Themen, aber in diesem Moment wirkte sie unsicher, fast ängstlich. Sie deutete auf zwei der Diagramme. »Es scheint, als ob sie versuchen, künstlich eine andere Art von Zeit zu erzeugen. Das ist dann wohl die ‚nicht-lineare‘ Zeit .« Verwirrt las sie weiter, überblätterte einige Seiten, die sich ihr nicht erschlossen. »Die Anmerkungen unseres Opfers sind sehr kritisch«, sagte sie nach einer Weile. Er zitiert amerikanische Teilchenphysiker, die das alles für ausgesprochen gefährlich halten. Die nicht-lineare Zeit könne sich als unkontrollierbar erweisen, schreiben sie.« Sie blätterte um und las weiter. »Die Details sind mir auch nicht ganz klar. Das übersteigt mein bisschen Fachwissen, aber diese Physiker scheinen geradezu panisch.« Ihre Stimme hatte nichts melodisches oder spöttisches mehr. Sie klang brüchig und tonlos, zutiefst verunsichert.

Auch Schellhaas fühlte eine plötzliche Beklemmung, ohne zu wissen, warum. »Was ist nicht-lineare Zeit und was zum Teufel machen die mit ihren Experimenten, verdammt noch mal?« fragte er, ohne einen seiner Kollegen anzusehen. Seine Augen waren geschlossen. Seine Lunge schien noch weniger Sauerstoff zu liefern, als sonst. Er wirkte blass und sein Atem klang rasselnd. Knöchel schaute ihn erschrocken an. Diese Art zu fluchen passte nicht zu seinem alten Freund. Das hier war so ganz anders, als ihre üblichen Fälle. Die Begegnung mit dem Unverständlichen zehrte an ihren Nerven.

»Am Ende machen die noch die Zeit kaputt, mit ihren Teilchenbeschleunigern.« Was eigentlich als Witz gedacht gewesen war, um Schellhaas aufzumuntern, endete mit einem heiseren Keuchen, Ihm wurde selbst die Luft knapp und er musste sich mit beiden Händen am Schreibtisch festhalten, die Knöchel weiß vor Anspannung. Für einen unfassbar zähen, schrecklichen Moment hatte er das furchtbare Gefühl neben sich zu stehen. Wirklich neben sich zu stehen … in einem ganz wörtlichen, Übelkeit erregenden, Sinn, den er nicht in Worte fassen konnte. So als wäre etwas unerklärlich Schreckliches passiert. Als hätte sich die Welt plötzlich verschoben, ruckartig, ohne eine bestimmte Richtung, auf eine ungreifbare, irreale Art und Weise. In der Zeit verschoben? Desorientiert versuchte sein Gehirn zu sortieren, was hier gerade mit ihnen passierte. Sein Gefühl für Zeit und Jetzt schien völlig aus dem Takt gekommen. Dann hörte er Schellhaas reden.

»Simultandolmetscher. Wer zum Henker tötet einen Simultandolmetscher?« Dieter C. Schellhaas hatte sich hingekniet und eine der Visitenkarten aufgehoben, die neben dem Bücherregal auf dem Boden lagen. Die Stimme des Hauptkommissars klang wie immer ein bisschen nach Joe Cocker und er schien das Wort regelrecht zu kauen.

Eddie Knöchel hielt sich immer noch am Schreibtisch fest und ein archaisches Entsetzen stieg in ihm auf. Die Realität um ihn herum erschien ihm schrecklich und vollständig fremd während ein Teil seines Verstandes ihm gleichzeitig zuflüsterte: »Das kennst Du doch. Das hast Du schon einmal erlebt. Das ist ...« Wieder spürte er dieses ekelerregende Gefühl von plötzlicher, richtungsloser, irrealer Verschiebung. Ihm wurde schlecht.

»Simultandolmetscher. Wer zum Henker tötet einen Simultandolmetscher?«

Wie eine alte Schallplatte mit Kratzer.

Sarah DeVries hatte bei der letzten Verschiebung den Halt verloren. Sie lag seitlich auf dem abgetretenen Teppich und versuchte krampfhaft, sich aufzurichten. Ihr Gesicht war aschfahl, die Augen aufgerissen, als sie versuchte, die schreckliche Erkenntnis zu formulieren: »Zeitschleife«, keuchte sie. »Das Experiment hat eine Zeitschleife ausgelöst.«

Noch einmal diese ungreifbare Verschiebung, ...

»Simultandolmetscher. Wer zum Henker tötet einen Simultandolmetscher?«

Die nächste Verschiebung kam schneller. Die übernächste direkt danach. Knöchel spürte wie Entsetzen über ihm zusammenschlug. Dann schloss sich die Schleife.

Kommentare

  1. Coole Story. Mit Buchtipp besonders cool. Direkt in der Bibliothek auf die Leseliste gesetzt. Helgoland soll auch cool sein.

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    1. Vielen Dank. Nicht alle Bücher gibt es wirklich, aber das hast du bestimmt schon gesehen. 😎

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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