Sci-Fi-Horror-Kurzgeschichte: "Der Einäugige"


Das Wodanasz war noch verrauchter als früher, die Schwaden schon Teil des Inventars. Sie hingen in der Luft, krochen in meine Klamotten und bissen in der Nase. Die knarrenden Bodenbretter waren ausgetreten, mit Astlöchern wie dunkle Krater, die Tische über Jahrzehnte nachgedunkelt. Selbst die Tablets mit den Menüvorschlägen waren abgegriffen, die Schilder an den Wänden blass und verdreckt. Keine der Kneipen, die ich kannte, verkörperte so sehr den Begriff Spelunke.

»Komm, lass uns mal wieder hingehen«, hatte Martin vorgeschlagen, als ich ihn aus der Klinik angerufen hatte. »Wie damals, beim ersten Date.«

Also saßen wir dort. Zwischen uns standen zwei Gläser Bier, daneben die obligatorischen Wodka. Man bestellte sie immer noch als ‚Wässerchen‘. Nur das Logo war neu. Irgendjemand hatte die ursprüngliche Bedeutung von Wodanasz ausgegraben und einen russisch angehauchten Odin entworfen. Den Einäugigen. Neokeltische Linienführung, die beiden Raben nur angedeutet. Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht hingegangen. So saß ich da, sprach mit Martin über den Krebs, der meine linke Netzhaut zerfressen hatte, und von jedem Bierdeckel starrte mich ein einäugiger Gott an.

Selbst mit meinem angeschlagenen Auge konnte ich ihn nicht übersehen. Mir war noch schlecht von der letzten Chemo und der Wodka machte es auch nicht besser.

Martin schaute auf die Papiere, die vor ihm lagen. Die Unterlagen aus der Klinik und meinen eigenen, wirren Notizen. Nachdem er sie gelesen hatte, schob er sie mit seinen schlanken Händen gerade. Das ist Martin: strukturiert, präzise und zielstrebig. Er, der erfolgreiche Unternehmer, und ich, der spontane Gefühlsmensch. Meine Hände waren blass und ich betrachtete unsere Ringe. Gold und Platin ineinander verschweißt. An jenem Dienstag war ich besonders dankbar, dass wir in all den Jahren zusammengeblieben waren. Ich brauchte seinen kühlen Verstand. Meiner schien gerade zu zerbröseln.

Die letzte Besprechung mit dem Oberarzt steckte mir immer noch in den Knochen. Er hatte sich vorsichtig ausgedrückt, versucht, den Schlag abzumildern. Aber mein Kopf wiederholte in Endlosschleifen immer wieder den entscheidenden Satz: Das Auge ist nicht mehr zu retten.

Dann war er mit dem Angebot gekommen: künstliches Auge, experimentelle Technologie und all das. Die Ethikkommission hatte gerade erst grünes Licht für die Studie gegeben. Er hatte lange geredet, mir Hoffnung gemacht, die Vorteile beschrieben. Aber in mir war eine Furcht gewachsen, so unkontrollierbar wie der Krebs. Ich seufzte und drückte meine Hand auf den Verband.

»Mein rechtes Auge ist Schrott, seit dem Unfall«, presste ich heraus. »Was soll ich machen, Martin. 15% Restsicht und jedes Jahr schlechter werdend.« Das klang bitter, ich merkte es selbst. »Und jetzt der Krebs ...« Einen Satz hatte ich die ganze Zeit vermieden. Jetzt sprach ich ihn aus: »Spätestens im Sommer werde ich blind sein.«

Martin schaute mich an. Langsam, als müsste er erst verarbeiten, was er gehört hatte, tippte er auf die Flyer mit Infografiken, die die Vorteile der neuen Technik anpriesen: Auflösung Ultra12K, NachtsichtModus, MakroVision mit Zoom, mRNA-Technik für den Kontakt zum Sehnerv, BioIonen-Akku und so weiter. Das volle Programm. Dazu Aufklärungs- und Einverständnisblätter zum Unterschreiben und die offizielle Notwendigkeitsbescheinigung.

»Aber die OP klingt doch großartig, warum willst du sie nicht machen?« Er schaute mich eindringlich an. »Warum, Gerald?«

Ich blieb ihm eine Antwort schuldig. Die Distanz zwischen uns dehnte sich in der Stille, als würde jedes Ausatmen die Entfernung verdoppeln. »Du kennst mich doch«, versuchte ich dann, die tiefe Angst in meinen Eingeweiden zu beschreiben. »Ich hätte kein Auge mehr, nur eine seelenlose Kamera. Metall und Technik im Kopf.« Der Gedanke machte mir eine Scheißangst. Meine Hände zitterten, als ich die Worte fand. »Ich will kein Cyborg sein.«

Den letzten Satz hatte ich viel zu laut ausgesprochen. Von den Nachbartischen hörte ich grimmiges Murmeln und ich erinnerte mich an die hitzigen Diskussionen im Wodanasz und die Schilder an den Wänden. ‚No Cyborg‘, ‚никаких киборгов‘ und ‚Wir bedienen keine Cyborgs‘ stand in allen möglichen Sprachen über der Theke und an jeder Trennwand. Hier war der Kampf gegen Transhumanisten, Enhancer und Cyborgs besonders entschlossen und brutal geführt worden. Ich versuchte mich zu beruhigen. Bloß nicht auffallen, dachte ich. Um mich herum saßen dutzende Soldaten und Söldner der AntiCyborg-Allianz mit dem ACA-Logo auf ihren Overalls. Die meisten der Gäste hatte vermutliche kleine Electrocuter in der Tasche. Den schweren, illegalen unter der Theke hatte ich selbst schon gesehen. Wenn der einmal abgefeuert würde, wäre jedes Enhancement, jedes Implantat nur noch Schrott.

Martin legte seine Hand auf meine, als wollte er mich schützen. Die Berührung tat gut. Mit der anderen tippte er auf den kleineren Stapel; eigentlich nur zwei Blätter. Russische Texte, die mit dem DeepL-Translator übersetzt worden waren. »Und was soll das hier?« Sein Finger suchte die Beschreibung der Reiseroute. »Willst du in deinem Zustand wirklich nach Tunguska? Ausgerechnet Sibirien?«

»Ich weiß, wo es ist, verdammt…« Gerade noch rechtzeitig brach ich ab und atmete aus. »Ich will an den Oberlauf der Steinigen Tunguska, um genau zu sein«, sagte ich und versuchte meine Stimme zu beherrschen. Mein Auge schmerzte, also tippte ich auf den Auslöser meiner Tilidin-Pumpe und gab mir eine weitere Dosis. Nach zehn langen Sekunden spürte ich endlich die Wirkung und atmete erleichtert durch.

Martin lehnte sich vor. Ich ahnte die Bewegung mehr, als dass ich sie sehen konnte. »Frankfurt - Krasnojarsk mit Zwischenlandung in Moskau. Dann mit einem alten Antonov An-2 Doppeldecker nach ...«, er schaute auf das Blatt, suchte das Wort: »Nach Wanawara. Du wirst tagelang unterwegs sein.« Ungläubig schüttelte er den Kopf.

»Und noch einmal fünf Stunden zu Fuß«, gab ich zurück. Den patzigen Tonfall konnte ich mir nicht verkneifen. »Meine Beine sind ja in Ordnung.«

»Und was ist mit den russisch-sibirischen Konflikten?«, frage er. »Du weißt nicht mal, ob die Reste der Cyborgov-Guerilla noch kämpfen.« Martin deutete auf die Monitore über der Theke. Sie zeigten wieder einmal eine Live-Sendung. Der Ton war ausgestellt, aber man sah ein verbarrikadiertes Dorf irgendwo auf der Welt. Panzerfahrzeuge rückten vor, Uniformierte mit Flammenwerfern setzten Häuser in Brand. Im Hintergrund war das bläulich-zuckende Licht von Electrocutern und das Logo der ACA-Milizen zu sehen. Dann zeigte die Kamera gefangene Cyborgs. Sie lagen oder saßen in langen Reihen an einer Mauer. Bei den meisten waren die Enhancements schon zerstört. Die schmerzverzerrten Gesichter und die typischen Muskelkrämpfe waren nicht zu übersehen. Ich hasste diese Propaganda-Videos. Den Livetickern zufolge stammten die Bilder von irgendwo in Südamerika, nicht Sibirien.

Es fiel mir dennoch schwer, Martins besorgten Blick zu ertragen. »Tunguska sollte sicher sein. Es gibt einen gültigen Waffenstillstand«, sagte ich und wünschte, es hätte die jahrzehntelange Diskriminierung der Cyborgs und die Aufstände der Transhumanisten nie gegeben.

Martin verschränkte die Arme. »Warum?«, fragte er, die Stimme mühsam gesenkt. »Sag mir bitte, warum?«

»Ich war schon mal in Tunguska, lange vor unser Zeit«, sagte ich. »Damals sprachen alle von einem, den sie den ‚Sehenden‘ nannten. Einer der ursprünglichen Ewenken-Schamanen im Nationalpark.«

»Ein Schamane?« Er klang fassungslos. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«

»Damals hab ich mich nicht zu ihm getraut. Aber sie sagten: ‚Er versteht Deine Seele‘.« Meine Worte klangen selbst für mich wie eine hohle Phrase. Also versuchte ich es nochmal: »Ich brauche seinen Rat. Ich will meine Seele verstehen, brauche Gewissheit.«

Martin schnaubte. Ich hätte wissen müssen, dass er mich nicht verstand. Mit ‚Seele‘ hatte er noch nie was anfangen können. Bei der OP waren meine Tränengänge entfernt worden. Also konnte ich nicht mehr weinen. Der Schmerz war trotzdem da.

Die Kellnerin kam humpelnd an unseren Tisch und unterbrach die angespannte Stimmung, indem sie drei Wässerchen vor uns stellte. Seit Jahren litt sie unter Schmerzen, weil ihr Mann die künstliche Hüfte für sie ablehnte. Nicht einmal das war hier erlaubt. Trotzdem war sie immer noch die gute Seele des Wodanasz.

»Die gehen aufs Haus«, sagte sie und hob ihr Glas. »Auf die alten Zeiten. Wásche Sdorówje!« Wir erwiderten ihren Trinkspruch und kippten den Wodka hinunter.

»Und auf die Gesundheit deiner Augen«, sagte sie leise.

Sie hatte wohl gesehen, wie Martin mich zum Tisch geführt hatte. Hier im Dämmerlicht des Wodanasz war ich schon jetzt fast blind. Ich zwang mich zu einem Danke, auch wenn ich Mitgefühl satthatte. Sie hatte es nicht verdient, angeschnauzt zu werden.

»Worüber redet ihr?« Sie war schon immer eine gute Zuhörerin.

Also sprach ich es aus: »Ich werde nach Tunguska fliegen.«

* * *​

Die Höhle war finster und bitterkalt. Daran änderte auch das Feuer nicht viel, das in einer Ecke brannte. Der Rauch roch nach Harz und Kräutern. Schatten tanzten an den Wänden und irgendwo tropfte Wasser. Meine Füße steckten in dicken Wanderstiefeln, trotzdem spürte ich den weichen Boden und ich vermutete, dass der Seher die Höhle mit Fellen ausgelegt hatte. An der Wand hinter dem Feuer prangten zwei riesige Raben, wie eine prähistorische Höhlenzeichnung. Fließende Linien in schwarz, rot und braun sahen im flackernden Licht aus, als würden sie sich bewegen. Flatternde Flügeln, nickende Köpfe und rot starrenden Augen, wie in einem Fiebertraum.

An die Reise hierher hatte ich nur noch schemenhafte Erinnerungen: Flugzeuge, Wartesäle, russisch sprechende Sitznachbarn und der ohrenbetäubende Lärm der Antonov mit ihrem stoischen Piloten. Die letzten Kilometer musste ich wohl zu Fuß durch die nahezu unberührte Landschaft gelaufen sein. Ich erinnerte mich an nordische Kiefern, Lärchen, an vereinzelte kleine Bachläufe und Sümpfe. Und an Schnee, viel Schnee. Wie ich die Strecke eigentlich geschafft hatte, wusste ich nicht. In meinem Kopf verschwamm die Erinnerung mehr und mehr. Trotzdem war ich hier. War ich? Das alles wirkte so irreal.

Mir gegenüber saß der Seher. Alt sah er aus, uralt. Selbst mit meinem kaputten Auge konnte ich das schlohweiße Haar über seiner blassen Haut erkennen. Quer über seiner Nase verliefen rote Narben. Am meisten beunruhigten mich seine Augen, oder vielmehr das, was davon übrig war. Das rechte lag tief im Schädel und war milchig weiß. Da, wo sein linkes Auge hätte sein sollen, gähnte ein schwarzes Loch. Er war blind.

Trotzdem konnte ich mich nicht gegen das Gefühl wehren, er blickte tief in mich hinein. Dann zog er ein paar Holzstäbchen aus seiner Tasche und warf sie auf den kleinen Tisch vor sich. Für einen Augenblick hielt er die Hand über die Orakelstäbchen. Dann tastete er ihre Lage vorsichtig mit den Fingern ab und nickte.

»Das Wichtige ist für die Augen unsichtbar«. Sein Russisch war schwer zu verstehen, die Stimme rau, als würde sie selten gebraucht. »Man sieht nur mit dem Herzen gut.«

Zitierte er gerade den ‚Kleinen Prinzen‘? Das konnte nicht wahr sein. Die ganze zermürbende Reise und jetzt Kalendersprüche? War das alles ein Fehler?

»Und was ist, wenn die ‚Wahrheit über Deine Seele‘ schlimmer ist als die Unwissenheit?«, hatte Martin gefragt. Er hatte recht gehabt. Ich fing an zu zittern.

Draußen vor der Höhle heulte ein Wolf, voller Sehnsucht und Wildheit. Andere Wölfe antworteten in der Nähe. Ein ganzes Rudel. Die Töne zerrten an meinen Nerven. Aber ich konnte den Blick nicht vom Gesicht des Sehers abwenden. Auf seiner Haut erschienen fraktale Muster, blaue schwach leuchtende Linien, wie Schaltkreise. Warum Schaltkreise? Der Gedanke drehte sich in meinem Kopf. Die Muster wurden größer, begannen sich zu überlappen. Und irgendetwas bewegte sich in seiner leeren Augenhöhle. Als ich erkannte, was es war, packte mich ein archaisches Grauen. Winzige Käfer wühlten sich aus den Tiefen seines Kopfes.

Ohne dass ich die Bewegung gesehen hatte, stand der alte Schamane urplötzlich auf seinen Füßen und ich konnte sein Gesicht besser erkennen. Hunderte metallischer Käfer nagten das Fleisch von seinem Schädel, tickend und klickend. Stück für Stück legten sie die weißen Knochen frei. Das blinde Auge begann zu zerfließen und rann langsam wie Schleim über seine Wange. Er reagierte nicht darauf, sondern streckte seine knochige Hand nach mir aus und zeigte auf mich, die spröde Haut spannte über seinen Knochen.

»Ich bin die Stimme der Seele«, sagte er. »Erkenne deine Wahrheit!« Dann veränderte sich das Fleisch seines Zeigefingers. Wie in Zeitraffer vertrocknete es und platzte von den Knochen. Ich begann zu schreien, als ich es sah: Unter dem Fleisch, verbunden mit glänzenden Gelenken und Sehnen aus Draht, zeigten sich messerscharfe Krallen aus Edelstahl.

Und während sich die Käfer unaufhaltsam durch sein Gesicht fraßen und einen Totenschädel freilegten, sprach er wieder: »Du wirst der einäugige Blinde sein!« Die Stimme dröhnte in meinem Schädel. Ich presste mir die Hände auf die Ohren, aber die Stimme des Sehers und das unermüdliche Klicken der metallischen Insekten hörten nicht auf.

In diesem Moment bemerkte ich die Käfer an meinen Beinen. Tausende von ihnen kamen aus dem Boden, krabbelten in meine Hosenbeine und nagten sich in mein Fleisch. Blut quoll durch meine Hose. Sie würden mich auffressen, aushöhlen. Unaufhaltsam. Der Schmerz war unerträglich. Vor der Höhle heulten wieder die Wölfe.

* * *​

Ich schrie. Und mit dem Schrei schreckte ich auf. Um mich herum war es dunkel und ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Desorientiert versuchte ich, irgendetwas zu erkennen. Mein Herz raste, ich schnappte verzweifelt nach Luft und mein Auge schmerzte wie noch nie.

Aber neben mir regte sich ein warmer Körper. Ich spürte starke, sanfte Arme um mich und hörte Martins Stimme: »Ich bin hier. Du hast geträumt.« Er streichelte meinen Rücken.

Nur langsam beruhigte ich mich, als hätte mein Körper noch nicht begriffen, wo ich war. Der wilde Schlag meines Herzens wurde kaum langsamer und mein ganzer Oberkörper schmerzte vor Anspannung. Und noch immer hörte ich das entsetzliche Klicken der Käfer und das Heulen der Wölfe.

Martin hielt mich fest im Arm. »Sch … «, flüsterte er und wiegte mich hin und her, bis ich ruhiger wurde. Ich klammerte mich an ihn und streichelte immer wieder über seine lockigen Haare, sein Gesicht. Versuchte, es mit den Fingern zu erkennen, mich zu erinnern. Der Gedanke, dieses Gesicht nie mehr sehen zu können, war schrecklich.

Und dann verstand ich, was ich wirklich brauchte. »Ich will dich wieder sehen können«, brach es aus mir heraus. »Mehr als alles will ich dich sehen.« Ein Leben ohne seinen liebevollen Blick erschien mir schlimmer als alles andere. »Auch wenn es heißt, ein Cyborg zu werden: Ich werde die OP machen. Ich lasse mir das Auge einsetzen.«

Martin atmete seufzend aus. Er hielt mich immer noch im Arm und ich spürte, wie sich seine Anspannung löste.

Und endlich hörten die Wölfe in mir auf zu heulen.

(Bildnachweis: "Blind Shaman" / erstellt von mir mit #midjourney auf #playgroundai)

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