Flash-Fiction: "Welt aus Rätsel und Gesang"
Noch nie hat ein Rätselsänger für die Al‘on Dan gesungen. Wenn die Zweifler recht haben, besinge ich hier meinen Tod. Frevel nannten sie, was ich erstrebe: Seit dem Tod der letzten Wahrsänger hat niemand mehr die Halle der Antworten betreten. Es ist verboten, ihre Cantui zu singen. Vier der größten Wahrsänger, gestorben bei dem vergeblichen Versuch, die Al‘on Dan zu erreichen. Drei erfroren, einer verschwunden. Seit Generationen sind Ihre Lieder verboten. Aber ausgerechnet ich stehe hier im verlassenen Hain der Sänger unter uralten Eschen und singe.
Sorgfältig intoniere ich die Vokale des letzten Refrains und lasse die Töne des Cantuan verklingen. Die Magie zieht an meinem Atem, meiner Kehle, meinen Lippen. Die Energie für die Wandlung stammt vor allem aus dem Cantor selbst. So haben wir es gelernt und auch dieses Mal ist es so. Meine Kraft schwindet, meine Beine geben nach und ich falle nach vorn. Nur das alte Laub mildert meinen Sturz. Der Boden ist eiskalt, mühsam stemme ich mich hoch. Gefrorene Blätter zerbrechen knisternd unter meinen Handschuhen. Wenn die Wandlung so viel Kraft kostet ... ist es mir vielleicht geglückt. Gibt es Hoffnung?
Mein Brustkorb verkrampft sich schmerzhaft, ich huste weißen Nebel in die kalte Dämmerung. Die Blätter der Eschen überziehen sich mit Eisrändern. Immer größer wird der Kreis, aus dem die Wärme schwindet. Nebel kondensiert zu nadelspitzen Gebilden, die zu Boden fallen. Irgendwo reißt ein Baum mit einem berstenden Krachen von oben nach unten auf. Ein nervenzerfetzendes Geräusch. Und es wird dunkler und dunkler um mich herum. Große Veränderungen zehren von Wärme und Licht, sagt die Dritte Lehrreiche Strophe der Rätselsänger. Hunderte Male haben wir sie rezitiert. Aber zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich es selbst. Mit der eisigen Dunkelheit kommt die Angst.
Auch der Erste Sänger hatte Angst, als er mich aus der Halle der Lieder verbannte. Ich hörte es in seiner Stimme, auch wenn ich nicht wagte, ihm ins Gesicht zu sehen. Ach den Anblick der großen Bleiglasfenster und der ehrwürdigen Gewölben, die mir sonst soviel Trost spendeten, mied ich und hielt meinen Kopf gesenkt. Als er das Urteil sang, verließ ich die Gemeinschaft der Rätselsänger und die Klänge meiner Jugend in Schande. Ich habe den Ersten Sänger enttäuscht, habe alle enttäuscht. Dennoch ließ er mir die alten Aufzeichnungen. Gab mir Möglichkeit, die Lieder der Wahrsänger zu lesen, ihre Beschwörungen zu lernen. Ein Rätselsänger im ersten Jahr. Er wusste, wie gefährlich große Cantui sein können, ahnte gar, dass sie mich töten würden.
Aber welcher Ausweg bleibt noch für mein Volk? Wenn selbst die Bannsänger kein Lied kennen, das die Auslöschung aufhalten kann, was sollen wir tun? Als meine Eltern starben, waren ihre Körper kaum noch zu sehen. Da war nur noch das Leuchten. Selbst ihr Leichentuch konnte es nicht ganz verbergen. Erst das Holz des Totenfeuers verbrannte den fahlen Schein. Und jetzt Naima, geliebte Naima. An ihren Händen beginnt schon das Leuchten. Wie beim Vieh, wie bei den Äckern, die schon kein Korn mehr tragen, wie beim Felsen selbst. Ohne die Wahrsänger und die Al‘on Dan wird unsere Welt in grünem Leuchten vergehen. Die Vorstellung ist unerträglich, und so zwinge ich mich zum Handeln.
Die Schriftrollen mit den Großen Cantui liegen neben mir. Sie überziehen sich mit Eis und Dunkelheit, genauso wie das Laub und die Bäume. Ich beginne zu verstehen, welch tiefe Veränderung ich in den Harmonien der Wirklichkeit ausgelöst habe. Greife nach der nächsten Rolle, richte mich halb auf und beginne kniend mit den zweiten Cantuan. Er wird die Veränderung besiegeln, die Tür beschwören, wenn meine Kraft reicht. Die Betonung der alten Worte und die fremden Harmonien fallen mir schwer. Aber ich singe. Ich singe um das Leben derer, die ich liebe. Vielleicht singe ich auch um meinen Tod. Wieder spüre ich das Ziehen in meiner Kehle. Dann breitet der Ton sich aus. Er vibriert in meinem Brustkorb, wird tiefer und stärker. Der Ton erreicht die Luft, den Hain und schwingt zuletzt auch im Stein tief unter meinen Füßen.
Die Dunkelheit wird noch einmal tiefer. Jetzt erscheinen Schatten unter den eisbedeckten Eschen. Rechtwinklige Formen. Sie verdichten sich, verdrehen sich, werden zu Umrissen und dann löst sich aus der Dunkelheit die Tür der Götter. Fremd steht sie da, Ausdruck einer anderen Wirklichkeit, als spürte sie die Gesänge einer älteren Welt.
Sie ist tiefschwarz, um ihre Oberflächen nur ein schwaches Schimmern, das zwischen Blauschwarz und Nichtsein oszilliert. Die Säulen und das Türblatt dazwischen wirken uralt. Die Runen und Verzierungen kaum noch zu erkennen, der schwarze Stein abgewetzt und voller Moos. Ich greife danach und meine Hand zittert, als ich versuche zu berühren, was nicht hierher gehört.
Die Aufzeichnungen des alten Bannsänger tragen den Klang von Wahrheit. Es gibt einen Weg zu den Al'on Dan und in die Halle der Antworten. Aber er könnte mich töten. Oder Schlimmeres. Wieder verlässt mich die Kraft und ich spüre die Angst wie eine Faust um mein Herz. Angst ... und eine leise, trotzige Hoffnung.
Die schwarze Tür hat keinen Griff, nur eine Platte aus verziertem Silber ragt knapp aus dem Schimmern heraus und ich lege meine zitternden Hände darauf. Die Oberfläche ist fein ziseliert und so kalt, dass meine Handschuhe daran festfrieren. Die Natur selbst scheint mich zu warnen. Aber das hier ist der letzte aller Wege. Also drücke ich mit aller verbleibenden Kraft. Widerstrebend öffnet sich die Tür. Ich reiße meine Handschuhe los und wage mühsam einen Schritt über die Schwelle. Dann scheinen sich Oben und Unten zu zu verdrehen und ich stürze in eine blauschwarze Leere.
Mein Sturz endet jäh mit einem harten Aufschlag. Ich liege auf kaltem Stein. Auch auf dieser Seite der Tür ist es dunkel und wo ich Musik erwartete, ist es still. Wo sind die Lieder der Weltensänger, die Stimmen der Al‘on Dan? Mit schmerzenden Knochen richte ich mich auf und versuche, irgend etwas zu erkennen. Aber in dem fahlen Licht um mich herum sehe ich nur den Staub, den ich selbst aufgewirbelt habe. Die Aufzeichnungen des alten Bannsänger sprachen von einem Korridor und von hundert Schritten bis zum Eingang, aber ich kann nicht mehr gehen. Die Wandlung hat meine Kräfte fast völlig verzehrt. Also krieche ich.
Ich krieche Meter um Meter, bis zum großen Eingangstor. Es ist aus den Angeln gebrochen, verkanntet und die Flügel lassen sich nicht bewegen. Aber sie hängen so schief, dass ich mich gerade so zwischen ihnen hindurchdrücken kann. Das fahle Leuchten wird heller. Also hebe ich den Blick und sehe mich um. Da ist nur Staub und Stille. Die Halle der Antworten ist verlassen. Die Al‘on Dan hätten mein Volk gerettet. Aber sie können es nicht mehr. Geblieben ist nur das grüne Leuchten, das von ihrer Auslöschung kündet.
Sorgfältig intoniere ich die Vokale des letzten Refrains und lasse die Töne des Cantuan verklingen. Die Magie zieht an meinem Atem, meiner Kehle, meinen Lippen. Die Energie für die Wandlung stammt vor allem aus dem Cantor selbst. So haben wir es gelernt und auch dieses Mal ist es so. Meine Kraft schwindet, meine Beine geben nach und ich falle nach vorn. Nur das alte Laub mildert meinen Sturz. Der Boden ist eiskalt, mühsam stemme ich mich hoch. Gefrorene Blätter zerbrechen knisternd unter meinen Handschuhen. Wenn die Wandlung so viel Kraft kostet ... ist es mir vielleicht geglückt. Gibt es Hoffnung?
Mein Brustkorb verkrampft sich schmerzhaft, ich huste weißen Nebel in die kalte Dämmerung. Die Blätter der Eschen überziehen sich mit Eisrändern. Immer größer wird der Kreis, aus dem die Wärme schwindet. Nebel kondensiert zu nadelspitzen Gebilden, die zu Boden fallen. Irgendwo reißt ein Baum mit einem berstenden Krachen von oben nach unten auf. Ein nervenzerfetzendes Geräusch. Und es wird dunkler und dunkler um mich herum. Große Veränderungen zehren von Wärme und Licht, sagt die Dritte Lehrreiche Strophe der Rätselsänger. Hunderte Male haben wir sie rezitiert. Aber zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich es selbst. Mit der eisigen Dunkelheit kommt die Angst.
Auch der Erste Sänger hatte Angst, als er mich aus der Halle der Lieder verbannte. Ich hörte es in seiner Stimme, auch wenn ich nicht wagte, ihm ins Gesicht zu sehen. Ach den Anblick der großen Bleiglasfenster und der ehrwürdigen Gewölben, die mir sonst soviel Trost spendeten, mied ich und hielt meinen Kopf gesenkt. Als er das Urteil sang, verließ ich die Gemeinschaft der Rätselsänger und die Klänge meiner Jugend in Schande. Ich habe den Ersten Sänger enttäuscht, habe alle enttäuscht. Dennoch ließ er mir die alten Aufzeichnungen. Gab mir Möglichkeit, die Lieder der Wahrsänger zu lesen, ihre Beschwörungen zu lernen. Ein Rätselsänger im ersten Jahr. Er wusste, wie gefährlich große Cantui sein können, ahnte gar, dass sie mich töten würden.
Aber welcher Ausweg bleibt noch für mein Volk? Wenn selbst die Bannsänger kein Lied kennen, das die Auslöschung aufhalten kann, was sollen wir tun? Als meine Eltern starben, waren ihre Körper kaum noch zu sehen. Da war nur noch das Leuchten. Selbst ihr Leichentuch konnte es nicht ganz verbergen. Erst das Holz des Totenfeuers verbrannte den fahlen Schein. Und jetzt Naima, geliebte Naima. An ihren Händen beginnt schon das Leuchten. Wie beim Vieh, wie bei den Äckern, die schon kein Korn mehr tragen, wie beim Felsen selbst. Ohne die Wahrsänger und die Al‘on Dan wird unsere Welt in grünem Leuchten vergehen. Die Vorstellung ist unerträglich, und so zwinge ich mich zum Handeln.
Die Schriftrollen mit den Großen Cantui liegen neben mir. Sie überziehen sich mit Eis und Dunkelheit, genauso wie das Laub und die Bäume. Ich beginne zu verstehen, welch tiefe Veränderung ich in den Harmonien der Wirklichkeit ausgelöst habe. Greife nach der nächsten Rolle, richte mich halb auf und beginne kniend mit den zweiten Cantuan. Er wird die Veränderung besiegeln, die Tür beschwören, wenn meine Kraft reicht. Die Betonung der alten Worte und die fremden Harmonien fallen mir schwer. Aber ich singe. Ich singe um das Leben derer, die ich liebe. Vielleicht singe ich auch um meinen Tod. Wieder spüre ich das Ziehen in meiner Kehle. Dann breitet der Ton sich aus. Er vibriert in meinem Brustkorb, wird tiefer und stärker. Der Ton erreicht die Luft, den Hain und schwingt zuletzt auch im Stein tief unter meinen Füßen.
Die Dunkelheit wird noch einmal tiefer. Jetzt erscheinen Schatten unter den eisbedeckten Eschen. Rechtwinklige Formen. Sie verdichten sich, verdrehen sich, werden zu Umrissen und dann löst sich aus der Dunkelheit die Tür der Götter. Fremd steht sie da, Ausdruck einer anderen Wirklichkeit, als spürte sie die Gesänge einer älteren Welt.
Sie ist tiefschwarz, um ihre Oberflächen nur ein schwaches Schimmern, das zwischen Blauschwarz und Nichtsein oszilliert. Die Säulen und das Türblatt dazwischen wirken uralt. Die Runen und Verzierungen kaum noch zu erkennen, der schwarze Stein abgewetzt und voller Moos. Ich greife danach und meine Hand zittert, als ich versuche zu berühren, was nicht hierher gehört.
Die Aufzeichnungen des alten Bannsänger tragen den Klang von Wahrheit. Es gibt einen Weg zu den Al'on Dan und in die Halle der Antworten. Aber er könnte mich töten. Oder Schlimmeres. Wieder verlässt mich die Kraft und ich spüre die Angst wie eine Faust um mein Herz. Angst ... und eine leise, trotzige Hoffnung.
Die schwarze Tür hat keinen Griff, nur eine Platte aus verziertem Silber ragt knapp aus dem Schimmern heraus und ich lege meine zitternden Hände darauf. Die Oberfläche ist fein ziseliert und so kalt, dass meine Handschuhe daran festfrieren. Die Natur selbst scheint mich zu warnen. Aber das hier ist der letzte aller Wege. Also drücke ich mit aller verbleibenden Kraft. Widerstrebend öffnet sich die Tür. Ich reiße meine Handschuhe los und wage mühsam einen Schritt über die Schwelle. Dann scheinen sich Oben und Unten zu zu verdrehen und ich stürze in eine blauschwarze Leere.
Mein Sturz endet jäh mit einem harten Aufschlag. Ich liege auf kaltem Stein. Auch auf dieser Seite der Tür ist es dunkel und wo ich Musik erwartete, ist es still. Wo sind die Lieder der Weltensänger, die Stimmen der Al‘on Dan? Mit schmerzenden Knochen richte ich mich auf und versuche, irgend etwas zu erkennen. Aber in dem fahlen Licht um mich herum sehe ich nur den Staub, den ich selbst aufgewirbelt habe. Die Aufzeichnungen des alten Bannsänger sprachen von einem Korridor und von hundert Schritten bis zum Eingang, aber ich kann nicht mehr gehen. Die Wandlung hat meine Kräfte fast völlig verzehrt. Also krieche ich.
Ich krieche Meter um Meter, bis zum großen Eingangstor. Es ist aus den Angeln gebrochen, verkanntet und die Flügel lassen sich nicht bewegen. Aber sie hängen so schief, dass ich mich gerade so zwischen ihnen hindurchdrücken kann. Das fahle Leuchten wird heller. Also hebe ich den Blick und sehe mich um. Da ist nur Staub und Stille. Die Halle der Antworten ist verlassen. Die Al‘on Dan hätten mein Volk gerettet. Aber sie können es nicht mehr. Geblieben ist nur das grüne Leuchten, das von ihrer Auslöschung kündet.
Eine Fantasy-FlashFiction von Claas Gerald Gerdsen, Januar 2023
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